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Jean Piaget war ein Schweizer Entwicklungspsychologe, der als einer der einflussreichsten Forscher auf dem Gebiet der Kinderentwicklung und der kognitiven Entwicklungstheorie gilt. Letztere besagt dabei, dass Kinder ihre Denkfähigkeiten in bestimmten Stufen durchlaufen, während sie älter werden. Ausserdem postulierte er, dass Kinder ihre Umwelt durch aktive Interaktionen und Erfahrungen mit Objekten und Menschen verstehen und somit ihr Wissen aufbauen. Obwohl die Arbeit Jean Piagets daher wichtige Erkenntnisse im Bereich der kognitiven Entwicklung brachte, ist sie dennoch nicht völlig frei von Kritik.
Wer Jean Piaget war und welche Bedeutung sein Wirken für die modernen Entwicklungspsychologie hat, klärt der folgende Beitrag.
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Jean Piaget – Biografie
Jean Piaget wurde am 9. August 1896 im schweizerischen Neuenburg geboren. Als Sohn eines Literaturprofessors entwickelte er früh ein Interesse an Wissenschaft und intellektuellen Aktivitäten. Bereits in jungen Jahren zeigte er dabei eine besondere Neugier für Biologie, Geologie und Naturwissenschaften.
Piaget studierte später Naturwissenschaften an der Universität Neuenburg und schloss sein Studium 1918 mit einem Doktorat in Biologie ab. Während seiner Studienzeit entwickelte er dabei auch ein Interesse für Psychologie, insbesondere für die Kinderentwicklung. Er arbeitete zunächst als Psychologe und entwickelte standardisierte Intelligenztests für Kinder. In den 1920er Jahren begann er seine Forschung zur kognitiven Entwicklung von Kindern und veröffentlichte 1923 sein erstes bahnbrechendes Werk “Sprechen und das Denken des Kindes”. Diese Studie markierte den Beginn seiner Karriere als Pionier der Entwicklungspsychologie.
In den folgenden Jahren führte Piaget intensive Studien durch, die ihm halfen, seine Theorie der kognitiven Entwicklung zu erstellen. Seine Forschung, die auf Beobachtungen und Experimenten mit Kindern basierte, führte zur Formulierung der vier Hauptstadien der kognitiven Entwicklung, die sein bekanntestes Werk darstellen.
Im Laufe seiner Karriere lehrte Piaget an verschiedenen Universitäten und Institutionen (siehe Tabelle). Er beeinflusste somit Generationen von Psychologen/-innen, Pädagogen/-innen und Wissenschaftlern/-innen. Seine Theorien haben die Art und Weise, wie wir das Wachstum und die Entwicklung des menschlichen Verstands verstehen, nachhaltig verändert und sind auch weiterhin von grosser Bedeutung für die moderne Psychologie.
Am 16. September 1980 verstarb Jean Piaget in Genf, ein beeindruckendes Erbe auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie und der kognitiven Entwicklung hinterlassend.
Zeitraum | Ereignis |
1921 bis 1925 | Laborleiter |
1925 bis 1929 | Professur für Psychologie, Soziologie und Wissenschaftsphilosophie Universität Neuenburg |
ab 1933 | Direktor Institut Jean-Jacques Rousseau (Genf) |
1929 bis 1939 | Professur für Wissenschaftsgeschichte (Universität Genf) |
1939 bis 1952 | Professur für Soziologie und Psychologie (Universität Genf) |
1940 bis 1971 | Professur für experimentelle Psychologie (Universität Genf) |
1929 bis 1967 | Direktor des Internationalen Erziehungsbüros |
Interessensgebiete
Schon in seiner Kindheit zeigte Jean Piaget grosses Interesse an den Naturwissenschaften und galt als aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt. Er beschäftigte sich weniger mit altersentsprechenden Aktivitäten, denn mit intellektuellen und wissenschaftlichen Themen. So beobachtete er zum Beispiel die Tier- und Pflanzenwelt und erstellte schon im Kindesalter ein Buch mit dem Titel „Unsere Vögel“.
Während seiner Jungend arbeitete Piaget ausserdem im naturgeschichtlichen Museum, wo er in die Erforschung von Weichtieren eingeführt wurde. Auch hier publizierte er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten noch bevor er sein Abitur absolvierte.
Jean Piaget – Bedeutung
Jean Piagets Werk hat bis heute eine immense Bedeutung und bleibt äusserst einflussreich unter anderem in den Bereichen der Psychologie und Neurowissenschaft. Seine Theorie der kognitiven Entwicklung hat dabei einen dauerhaften Einfluss auf das Verständnis der menschlichen Entwicklung. Auch seine Ideen über die Stadien der kognitiven Entwicklung von Kindern sind nach wie vor grundlegend für die Erforschung von Denkprozessen und kognitiven Fähigkeiten im Laufe des Lebens.
Piagets Forschung hat zudem die pädagogische Praxis stark beeinflusst. Sein Ansatz betont die Bedeutung des aktiven Lernens, der Interaktion mit der Umwelt und des Erwerbs von Wissen durch Erfahrung und Exploration. Pädagogen/-innen nutzen seine Ideen daher, um Lehrmethoden und -pläne zu gestalten, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten der unterrichteten Kinder entsprechen.
Ausserdem hat seine Therorie die Neurowissenschaften stark beeinflusst. Die Erforschung der Hirnfunktionen in Bezug auf Wahrnehmung, Gedächtnis, Problemlösung und andere kognitive Prozesse hat Verbindungen zu Piagets Ideen hergestellt und die Forschung in diesem Bereich vorangetrieben.
Piagets Beitrag zur Psychologie hat das Verständnis des menschlichen Denkens und der kognitiven Entwicklung wesentlich geprägt und wird auch weiterhin einen bedeutenden Einfluss auf die Bildung, die Psychologie und andere verwandte Disziplinen haben.
Jean Piaget – Theorien und Modelle
Piaget hat während seiner Karriere eine Reihe von Theorien und Modellen entwickelt, die sein umfangreiches Werk in der Entwicklungspsychologie und kognitiven Entwicklung prägten. Daneben beeinflussten diese aber auch Bereiche wie die Pädagogik, die Erziehungsberatung und die kognitiven Neurowissenschaften sowie die Erkenntnistheorie. Nachfolgend sind daher einige seiner wichtigsten Theorien aufgeführt:
- Theorie der kognitiven Entwicklung: Hierbei handelt es sich um Piagets bekannteste und einflussreichste Theorie. Sie postuliert, dass Kinder ihre kognitiven Fähigkeiten in vier Hauptstadien entwickeln, wobei jedes Stadium durch charakteristische Denkweisen und Fähigkeiten gekennzeichnet ist.
- Theorie der genetischen Epistemologie: Diese Theorie beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung von Wissen. Piaget argumentierte, dass das Wissen aus den Handlungen und Interaktionen eines Individuums mit seiner Umwelt entsteht und sich im Laufe der Zeit aufbauend auf diesen Interaktionen entwickelt.
- Theorie der genetischen Entwicklung der Intelligenz: Piaget postulierte, dass Intelligenz ein aktiver, konstruktiver Prozess ist, bei dem Individuen ihr Wissen und Verständnis durch eigene Aktivitäten aufbauen. Er identifizierte hierbei zwei Hauptprozesse, die die Entwicklung der Intelligenz beeinflussen: Assimilation (die Integration neuer Erfahrungen in bestehende kognitive Strukturen) und Akkommodation (die Anpassung von kognitiven Strukturen an neue Erfahrungen).
- Theorie der moralischen Entwicklung: Untersuchung der Entwicklung der Moral bei Kindern und Jugendlichen. Hierbei entwickelte Piaget die Theorie, dass die moralische Entwicklung durch das Zusammenspiel von sozialen Interaktionen und kognitiven Prozessen beeinflusst wird.
- Theorie des moralischen Urteils: In seiner Arbeit zur moralischen Entwicklung entwickelte Piaget auch diese Theorie, in der er die verschiedenen Stufen des moralischen Denkens von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter beschrieb.
Theorie der kognitiven Entwicklung
In der Theorie über die kognitive Entwicklung unterscheidet Jean Piaget im Wesentlichen vier Hauptphasen voneinander. Ab der Geburt bis zum Alter von 18 bis 24 Monaten, beginnt das sogenannte sensumotorische Stadium. Während ein Neugeborenes zunächst nur über angeborene Reflexe verfügt, beginnt bereits nach wenigen Monaten das Lernen verschiedener Fähigkeiten. Dabei lernen Babies vor allem durch Beobachten und verschiedene Handlungen oder Experimente.
Laut Piaget entwickeln sie im Alter von etwa zwölf Monaten die sogenannte Objektpermanenz. Das bedeutet, dass sie erkennen, dass Gegenstände auch dann noch da sind, wenn sie sie nicht sehen. Zum Ende des sensumotorischen Stadiums lernen Kinder sich selbst von ihrer Umwelt abzugrenzen.
Beginnend mit etwa 18 bis 24 Monaten bis zum Alter von vier Jahren verläuft das präoperationale Stadium. Prägend für diese Entwicklungsstufe ist nach Piaget das symbolische oder vorbegriffliche Denken. Das Kind erlernt Sprache und beginnt sich über Vorbegriffe auszudrücken. Ausserdem wird symbolisches Spielen möglich, weil das Kleinkind lernt zwischen Objekten und ihrer Symbolik zu unterscheiden. So kann es beispielsweise mit einem Bauklotz spielen und so tun, als ob der Bauklotz ein Auto wäre.
Bis zum Alter von etwa sieben bis acht Jahren erlernt das Kind das anschauliche Denken. Was zunächst über das Erinnern loser Bilder beginnt, wird nun in echte Begriffe und Sinneseindrücke weiterentwickelt, die kausal auch mit dazugehörigen Ereignissen oder Eindrücken verknüpft werden können.
Ab einem Alter von sieben bis acht Jahren folgt die Stufe der konkreten Operationen. Das Denken ist auf dieser Stufe noch auf anschauliche Inhalte begrenzt, wird aber zunehmend komplexer. Es werden grundsätzliche Regeln oder Merkmale von Situationen wahrgenommen und in Relation mit der Umwelt gesetzt. Bis zum Alter von ungefähr elf bis zwölf Jahren wird das Handeln immer reflektierter, das Kind schlussfolgert logisch und kann Phänomene damit folgerichtig einordnen.
Das Stadium der formalen Operationen beginnt mit elf bis zwölf Jahren. Während des Übergangs zum/-r Jungendlichen kann mit abstrakten Inhalten zunehmend rein gedanklich umgegangen werden. Es entwickelt sich die Kompetenz bestimmte Probleme auch ausschliesslich theoretisch zu analysieren und systematisch zu bedenken. Laut Piaget ist dann die höchste Form des logischen Denkens erreicht.
Jean Piaget – Verhaltensexperimente
Jean Piaget verwendete Verhaltensexperimente als wesentliche Methode, um seine Theorie der kognitiven Entwicklung zu stützen. Diese Experimente wurden entwickelt, um das Denken und die kognitiven Fähigkeiten von Kindern in verschiedenen Altersgruppen zu untersuchen. Piaget glaubte, dass das Verständnis der Denkprozesse von Kindern am besten durch Beobachtung ihres Verhaltens in speziell gestalteten Experimenten gewonnen werden könne.
Ein Beispiel für eines seiner berühmten Experimente ist das “Drei-Berge-Experiment”. In diesem zeigte Piaget Kindern im Vorschulalter eine Miniaturlandschaft mit drei Bergen unterschiedlicher Höhe und Form. Jeder Berg hatte eine spezifische, charakteristische Marke an seiner Spitze. Dann wurde den Kindern eine Puppe gezeigt, die die Landschaft aus verschiedenen Positionen betrachtete. Die Kinder wurden gebeten, zu beschreiben, was die Puppe sehen könnte.
Piaget stellte fest, dass jüngere Kinder (im präoperationalen Stadium) angaben, die Puppe sehe genau dasselbe wie sie selbst, unabhängig von ihrer Position. Dies zeigte eine Art von Egozentrismus, bei dem die Kinder Schwierigkeiten hatten, die Perspektive anderer Personen zu berücksichtigen. Kinder im späteren Stadium (konkret-operationales Stadium) konnten jedoch die Perspektive der Puppe berücksichtigen und erkannten, dass sie die Landschaft aus einer anderen Sicht sah.
Diese und andere Verhaltensexperimente halfen Piaget, die Entwicklungsstadien seiner kognitiven Theorie zu identifizieren und die charakteristischen Denkweisen in jedem Stadium zu beschreiben. Sie trugen dazu bei, unser Verständnis der kindlichen Entwicklung und der kognitiven Prozesse zu vertiefen. Piagets Arbeit beeinflusste nicht nur die Psychologie, sondern auch die Pädagogik, die Erziehung und andere Disziplinen, die sich mit der Entwicklung von Kindern befassen. Seine Verhaltensexperimente sind nach wie vor eine wichtige Grundlage für die Erforschung der kindlichen Kognition.
Jean Piaget – Veröffentlichungen
Jean Piaget war ein äusserst produktiver Wissenschaftler und veröffentlichte zahlreiche Bücher, Artikel und wissenschaftliche Arbeiten während seiner Karriere. Einige seiner bedeutendsten und am meisten beachteten Werke sind die folgenden:
- “The Language and Thought of the Child” (1923): Markierte Piagets frühe Arbeit zur Sprachentwicklung und zum Denken von Kindern. Er untersuchte, wie Kinder Sprache erlernen und wie sich ihr Denken im Vorschulalter entwickelt.
- “The Child’s Conception of the World” (1926): In diesem Buch erweiterte Piaget seine Theorie zur kognitiven Entwicklung und untersuchte die Entstehung des kindlichen Weltverständnisses. Er diskutierte, wie Kinder ihr Wissen über die Welt aufbauen und ihre Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität entwickeln.
- “The Moral Judgment of the Child” (1932): Diese Veröffentlichung widmete sich der moralischen Entwicklung von Kindern. Piaget untersuchte, wie moralische Vorstellungen bei Kindern entstehen und sich im Laufe der Zeit entwickeln.
- “The Construction of Reality in the Child” (1937): Hier erweiterte er seine Theorie der kognitiven Entwicklung und untersuchte, wie Kinder ihr Verständnis von Realität und Wissen aufbauen. Er beschrieb die Prozesse der Assimilation und Akkommodation und ihre Rolle bei der Konstruktion des Wissens.
- “The Psychology of Intelligence” (1947): In diesem Buch präsentierte Piaget seine Theorie der kognitiven Entwicklung in ausführlicher Form. Er diskutierte die verschiedenen Stadien der kognitiven Entwicklung von Kindern und betonte die Rolle der Interaktion mit der Umwelt bei der Entwicklung von Denkprozessen.
- “The Grasp of Consciousness” (1976): Diese spätere Veröffentlichung betonte die Bedeutung des Bewusstseins und des introspektiven Denkens in der kognitiven Entwicklung. Piaget untersuchte die Entstehung des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins bei Kindern und Erwachsenen.
Jean Piaget – Würdigung
Jean Piaget erhielt während seines Lebens und nach seinem Tod zahlreiche Würdigungen für seine bedeutenden Beiträge zur Psychologie und seine wegweisende Arbeit zur kognitiven Entwicklung. Unter anderem wurden ihm mehrere Ehrendoktorwürden von renommierten Universitäten weltweit verliehen. Darunter zum Beispiel die Harvard University, die University of Chicago oder die Sorbonne.
Im Jahr 1952 erhielt Jean Piaget die Jean-Jacques-Rousseau-Medaille durch die Universität Genf, womit seine besonderen Verdienste in der Erziehung und Sozialwissenschaft gewürdigt wurden. Mit einem der renommiertesten internationalen Preise in Geistes- und Naturwissenschaften, dem Balzan-Preis, wurde Piaget posthum im Jahre 1979 für seine Arbeit in der Entwicklungspsychologie und der Theorie der kognitiven Entwicklung ausgezeichnet.
Jean Piaget – Kritik
Bei allem Einfluss und Bedeutungsreichtum, den Jean Piagets wissenschaftliches Lebenswerk für die Psychologie bedeutet, gibt es auch verschiedene Kritikpunkte an seinem Schaffen. Im Wesentlichen gibt es dabei vier Punkte, die in diesem Zusammenhang genannt werden.
Zunächst habe Piaget die Kompetenzen der Kinder unterschätzt, die bei geeigneter Aufgabenstellung zum Teil vergeblich früher Leistungen erbringen können, als nach dem Stufenmodell angenommen. Neueren Forschungsergebnissen zufolge verläuft die kognitive Entwicklung bei Kindern wesentlich schneller als von Piaget angenommen. Kleinkinder erwiesen sich zudem als viel kompetenter, was ihre Denkmuster und Schlussfolgerungen betrifft. Sie konnten viel früher als angenommen mentale Gebilde (zum Beispiel Gedanken, Träume, Erinnerungen) von realen Dingen oder Situationen unterscheiden.
Abgesehen davon sind die individuellen Unterschiede in der kognitiven Entwicklung in Bezug auf Geschwindigkeit und Umfang teilweise so gross, dass ein universelles Stufenmodell grundsätzlich in Frage gestellt wird. Darüber hinaus besteht der Vorwurf, dass soziale beziehungsweise kulturelle Faktoren von Piaget nicht hinreichend bei der kognitiven Entwicklungstheorie in Betracht gezogen wurden. Die Methodik als solche wird deswegen kritisiert, da sie lediglich beschreibt, nicht aber erklärt, also Ursache-Wirkungs-Beziehungen beleuchtet. Zuletzt wird kritisiert, dass das Stufenmodell mit der Adoleszenz endet, geistige Entwicklung aber darüber hinaus weiterhin stattfindet.
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